Am Anfang fühlt es sich oft nicht nach Gewalt an. Es wirkt zunächst wie die große Liebe. Die andere Person möchte jede freie Minute mit dir verbringen. Schon nach kurzer Zeit hörst du Sätze wie: „Du bist einzigartig“, „Ich habe noch nie jemanden so geliebt“ oder „Du bist die einzige Person, die mich wirklich versteht“. Dazu kommen kleine Geschenke, dein Lieblingssnack, vielleicht ein Kuscheltier und bald sogar die Einladung zum ersten gemeinsamen Urlaub.
Was sich wie eine romantische Geschichte anhört, hat einen Namen: Love Bombing. Dabei geht es nicht darum, echte Nähe aufzubauen, sondern dich möglichst schnell emotional abhängig zu machen. Was wie Zuneigung beginnt, entwickelt sich langsam zu etwas anderem. Gewalt in Beziehungen kommt selten plötzlich. Sie baut sich schleichend auf, oft so subtil, dass du selbst kaum merkst, wie sich dein Leben verändert.
1. Grenzüberschreitungen
Du hörst Sätze wie: „Wenn du mich wirklich liebst, würdest du das machen.“ oder „Wenn ich dir wichtig bin, dann bleibst du heute Abend hier.“ Vielleicht merkst du auch, dass dein Nein nicht akzeptiert wird. Es geht dabei nicht immer um große Entscheidungen, manchmal sind es kleine Dinge im Alltag.
Das sind Grenzüberschreitungen. Sie können verbal sein, aber auch körperlich. Ein Schlag, ein erzwungener Kuss, Festhalten, Schubsen oder eine sexuelle Handlung, die du nicht willst. Auch wenn du zu Entscheidungen gedrängt wirst, die du eigentlich nicht treffen möchtest, etwa, einen Job oder ein Hobby aufzugeben, ist das eine Grenzüberschreitung. Wenn deine Bedürfnisse und dein “Nein” immer wieder übergangen werden, ist das ein klares Warnsignal. Deine Grenzen sind wichtig und sollten respektiert werden.
2. Isolation
Du merkst, dass du immer weniger Kontakt zu Freund*innen oder Familie hast, weil dein Partner oder deine Partnerin dich davon abhält. Am Anfang klingt es wie Fürsorge: „Bleib heute lieber bei mir.” Später werden enge Bezugspersonen schlecht gemacht: „Die Freundin ist ein schlechter Einfluss.“ Auch extreme Eifersucht wird oft mit “Liebe” begründet oderBesitzansprüchen wie “Du gehörst mir.” Schritt für Schritt verlierst du dein soziales Umfeld, Hobbys und Freiräume. Am Anfang ist es oft leichter, das Verhalten zu rechtfertigen oder zu verteidigen, als sich einzugestehen, dass der Ursprung nicht Liebe, sondern der Wunsch nach Kontrolle und Macht ist.
3. Abwertungen
Dein Partner macht Witze auf deine Kosten. Erst denkst du, er sei nur sarkastisch, doch mit der Zeit fühlt sich alles, was du tust, falsch an. Vor anderen wirst du bloßgestellt, und wenn du dich wehrst, heißt es: „Du hast keinen Humor.“ Manchmal behauptet er, Dinge seien nie passiert oder du würdest übertreiben. Stück für Stück beginnst du, an deiner eigenen Wahrnehmung zu zweifeln. Du fragst dich: „Übertreibe ich wirklich? Bin ich vielleicht zu empfindlich?“
Das ist psychische Gewalt. Abwertungen und ständige Kritik haben starken Einfluss auf das eigene Selbstwertgefühl. Gaslighting wie „Das bildest du dir ein“ oder „Du erinnerst dich falsch“ führen dazu, dass die eigene Wahrnehmung infrage gestellt wird. In Kombination mit Isolation wird es noch gefährlicher, weil es immer weniger Möglichkeiten gibt, die eigene Erinnerung und Wahrnehmung mit anderen abzugleichen. Mit der Zeit entsteht das Gefühl, selbst schuld zu sein oder dass das Erlebte gar nicht so schlimm ist und genau das macht es noch schwerer, sich zu befreien.
4. Kontrolle
Erst wirst du überredet, ein gemeinsames Konto einzurichten, „weil es praktischer sei“. Dann schaut er dir beim Schreiben über die Schulter, später liest er heimlich deine Nachrichten. Er sagt dir, du könntest nicht so rausgehen und müsstest dich umziehen. Manchmal kauft er sogar Kleidung für dich, die du tragen sollst. Schließlich verbietet er dir, weiter zur Arbeit zu gehen mit der Begründung, er könne es nicht ertragen, dass du dort mit Männern zusammenarbeitest.
Kontrolle kann viele Formen annehmen. Sie reicht vom Finanziellen über deine Kommunikation bis zu deiner Arbeit und deinem sozialen Leben. Je mehr Bereiche betroffen sind, desto schwerer wird es, sich Hilfe zu holen. Kontrolle passiert heute oft auch digital durch ständige Anrufe, Nachrichten oder über deine Online-Profile.
5. Angst und ein ungutes Gefühl
Du überlegst ständig, was du sagen darfst, damit es keinen Streit gibt. Du gehst wie auf Zehenspitzen durch den Alltag, bist angespannt, sobald dein Handy aufleuchtet oder die Tür aufgeht. Schon kleine Gesten oder Blicke reichen und du zuckst zusammen.
Wenn Angst und ein ungutes Gefühl deine Beziehung prägen, ist das ein klares Zeichen für Gewalt. Einschüchterungen, ob durch Worte, Gesten oder Blicke, dienen dazu, Kontrolle auszuüben, damit du dich so verhältst, wie es von dir erwartet wird. Du hast ein Recht auf Sicherheit und Selbstbestimmung.
Du bist nicht allein
Die hier beschriebenen Verhaltensweisen und Strategien werden von den Gewaltausübenden genutzt, um Kontrolle und Macht auszuüben und Abhängigkeiten zu schaffen. Aber es führt auch dazu, dass es für betroffene Personen immer schwerer wird, sich aus der Gewaltbeziehung zu befreien.
Gewalt ist nicht immer laut und nicht immer sichtbar. Wenn du dich in diesen Beschreibungen wieder findest, heißt das nicht, dass du übertreibst. Es heißt, dass du aufmerksam bist und dass du einen ersten Schritt gehst. Du hast das Recht, dich sicher zu fühlen.
Wenn du unsicher bist, was dein nächster Schritt sein könnte, findest du Unterstützung z.B. unter myProtectify.org. Du bist nicht allein.
Anmerkung: Gewalt gibt es nicht nur in heterosexuellen Beziehungen, sondern auch in gleichgeschlechtlichen und queeren Partnerschaften. Auch wenn die Forschung und öffentliche Diskussion bisher häufig heterosexuelle Paare in den Mittelpunkt stellen, zeigen sich in allen Beziehungsformen ähnliche Gewaltmuster. Am Ende geht es immer darum, Macht und Kontrolle auszuüben.

Gastbeitrag von Ronja Zimmermann
Head of Psychological Product Development bei myProtectify
